Alltag, Frust, Lektüre, Mensch-Maschine, Würzburg

Ursache und Wirkung (2): Zivilcourage oder Denunziantentum?

… oder: Wie deutscher Mainstreamjournalismus funktioniert. Oder auch: Wie es sich die deutsche Gesellschaft dermaßen im Auto bequem gemacht hat, dass sie auch dann Auto denkt, wenn sie gar nicht in einem solchen fährt. Eine Zwischenbilanz zum Aufreger dieser Woche – zumindest, was die E-Mail-Verteiler der verkehrspolitisch Interessierten hier in Würzburg angeht (Danke Euch allen für die diversen Hinweise!).

Am Donnerstag Abend (24.7.) startete die Sendung »Panorama« (ARD, 21.45 Uhr) gleich mit einem besonders heißen Eisen: Einem Beitrag über die »Wegeheld«-Website und -App (mit der man Falschparker per Foto auf der zugehörigen Website und per Mail ans Ordnungsamt melden kann) sowie die Verwendung von sog. Dashcams, die kontinuierlich die eigene Sichtweise im Verkehr filmen (üblicherweise als Kamera an der Windschutzscheibe, bei mir hin und wieder am Fahrradlenker), und die vor allem dokumentieren helfen sollen, wenn das Fehlverhalten anderer im Verkehr die eigene Sicherheit gefährdet. Ich habe meine eigenen Erfahrungen mit dieser Technologie bereits gemacht, konnte mich aber, trotz einer eindeutig für mich gefährlichen Situation, bisher noch nicht dazu durchringen, konsequent den letzten Schritt zu gehen und Anzeige zu erstatten.

Auf die Frage, warum ich das noch nicht getan habe, muss ich leider antworten: Ich könnte beinahe täglich Anzeige erstatten – gegen Autofahrer sowieso, die mich (oder unseren Jüngsten, mit dem ich über die Hälfte der Zeit im Alltag in der Stadt unterwegs bin) auf der Straße lebensgefährlich schneiden, uns die Vorfahrt nehmen oder sonstige regelwidrige Fahrmanöver zu ihrem Vorteil und unserem Nachteil durchführen – wohl wissend, dass wir den Zusammenstoß mangels Knautschzone/Airbag natürlich nicht riskieren und bremsen resp. kleinbeigeben werden. Dass (uns) bisher nichts passierte, lag in keinem der Fälle am Verhalten der jeweiligen Autofahrer. Dazu kommen kleinere, nicht minder häufige (und weniger gefährliche, dafür nervige) Ordnungswidrigkeiten wie der permanente Verstoß gegen §16 STVO (vulgo: Anhupen, weil ein STVO-Ignorant meint, uns sein Nichtwissen der Verkehrsregeln akustisch mitteilen zu müssen). Aber auch Radfahrer – und Fußgänger – brillieren nicht mit regelkonformem Verhalten. Nur ist das eben deutlich weniger gefährlich, als wenn ein Vollpfosten 2 Tonnen beschleunigtes Material als Beitrag in den täglichen Diskurs über Verkehrsregeln einbringt.

Dank aktueller Technologie (Dashcam) und Medien (Internet, Smartphone) kann man mittlerweile eine Öffentlichkeit schaffen, um auf Fehlverhalten im Straßenverkehr hinzuweisen und Verkehrsteilnehmer – auch Radfahrer und Fußgänger –, zu sensibilisieren. Auch dieses Blog bzw. die Beiträge zum Straßenverkehr oder der Situation in Würzburg tun das. Ich bin aber nicht daran interessiert, hier beliebiges Fehlverhalten exemplarisch darzustellen und/oder meine Kenntnisse und mein Verständnis der STVO zum Besten zu geben. Ich dokumentiere oder diskutiere ausschließlich Situationen, denen ich direkt selbst ausgesetzt war. Als aktiver Verkehrsteilnehmer, und nicht als Sonderling aus der Nachbarschaft, der sich hinter einer vorgezogenen Gardine versteckt und den ganzen Tag seine Umwelt beobachtet, nur um Fehlverhalten anderer zu notieren, zu kommentieren (Zettelchen verteilen) oder anonym anzuzeigen. Das Gebaren eines solchen Sonderlings wäre in etwa das, was ich unter Denunziantentum verstehe – das Verhalten anderer behördlich zu melden oder gesellschaftlich in Mißkredit zu bringen, ohne direkte Betroffenheit oder Gefährdung und ohne dass durch die Denunziation eine direkte Betroffenheit oder Gefährdung aufgehoben werden könnte. Im Gegenteil: Durch die Denunziation wird eine Situation hergestellt, die schlimmer ist als die Ausgangssituation.

Was das mit dem »Panorama«-Beitrag zu tun hat? Er ist ein mustergültiges Beispiel dafür, wie verdreht die Situation auf Deutschlands Straßen mittlerweile ist. Es wird zwar ausgiebig über Denunziantentum geredet – zu Wort kommen Heinrich Strößenreuther (Entwickler Wegeheld-App), Stephan Humer (Soziologe), Kayhan A. (Dashcam-Nutzer), Thomas Kranig (Datenschutzbeauftragter Bayern) und Norbert Altenkamp (Bürgermeister Bad Soden) –, aber bis auf Heinrich Strößenreuther und Kayhan A. scheint sich niemand daran zu stören, dass hier ein Symptom (Dokumentieren und gegebenenfalls Anzeigen von Fehlverhalten) diskutiert und kritisiert wird, die Ursache jedoch (Fehlverhalten im Straßenverkehr) als unvermeidbar, selbstverständlich, quasi naturgegeben akzeptiert wird. So taucht, wen wunderts, der Begriff »Zivilcourage« gerade einmal auf: in der Überschrift. Im weiteren Verlauf des Beitrags (nachzusehen in der ARD-Mediathek, nachzulesen in diesem PDF) überwiegen dagegen die negativen Um- und Zuschreibungen: »Sünder gerne anzeigen oder an den Pranger stellen«, »das Bedürfnis nachzuhelfen«, »über den schmalen Grat zwischen bürgerlichem Einsatz und Denunziantentum«, »er mache das Problem größer, als es ist«, »Tummelplatz für Denunzianten«, »Selbsternannte Verkehrserzieher«, »Jeder kann sich im Internet zum digitalen Richter aufschwingen«, »Das Video als Selbstjustiz?«, »nach Meinung von Datenschützern ein eindeutiger Verstoß gegen geltendes Recht«, »ob ich … als Kämpfer für Recht und Ordnung mich aufspielen will«, »stärkt das Misstrauen der Menschen untereinander«, »das Vertrauen in den Staat dadurch eben reduziert wird«, »mit selbsternannten Ordnungshütern«, »überzeugt, dass Denunzianten im Straßenverkehr dem Gemeinwesen nicht gut tun – mag ihre Intention auch noch so gut sein«, »Da ist der Spaltpilz drin, da ist Unfrieden gesät«, »Im Internet wird dieser Krieg wohl immer gnadenloser toben«, »Videos anonym posten – ohne als Person für sein Handeln einzustehen«, »Diejenigen, die andere anschwärzen«, »für die Gesellschaft wird es ein echtes Problem«.

Natürlich ist das Verhalten etwa von Kayhan A. frag- und diskussionswürdig, der offenbar seine Lebensaufgabe darin gefunden hat, jede Fahrt zu dokumentieren und jedes Fehlverhalten anderer, mit eigenen Kommentaren versehen, auf Youtube öffentlich zu machen. Vielleicht verwende ich die Actioncam deswegen nicht mehr im Alltag: aus Angst, dann genauso nur noch auf Fehlverhalten fixiert meine freie Zeit mit filmen, schneiden, kommentieren und hochladen zu verbringen. Das kann auch in Würzburg schon ein Fulltime-Job sein – und zwar für mehr als eine Person.

Im ganzen Beitrag bleibt der Kern des Problems, die eigentliche Ursache völlig aussen vor: Fehlverhalten im Straßenverkehr. Bzw. wird in der Anmoderation verniedlicht: »Ohne Regeln geht es nicht. Das mag spießig klingen, aber unser Zusammenleben funktioniert nur, wenn sich zumindest die Mehrheit an Regeln hält. Schließlich ärgert man sich schwarz, wenn sich etwa jemand bei einer langen Schlange einfach vordrängelt. Oder ein Auto mit 60 durch die Tempo 30 Zone rast, unverschämt parkt oder einen übel schneidet. Und ja, manchmal würde man solche Sünder gerne anzeigen oder an den Pranger stellen. Aber dafür ist der Staat zuständig. Nun gibt es allerdings Menschen, die der Ansicht sind, der Staat erfülle seine Pflichten da nicht richtig. Deshalb haben sie offenbar das Bedürfnis nachzuhelfen.«

»Spießig«? »Sich schwarz ärgern«? »Vordrängeln«? Wir reden hier nicht über Fehlverhalten wie etwa fehlenden Manieren im Umgang miteinander oder der Wahl der falschen Krawatte oder der Verwendung des falschen verbalen Ausdrucks. Vielleicht sollten wir zwischendurch über Zahlen reden – im Juli beherrschen folgende die Medien: Beim Abschuss von Flug MH17 über der Ukraine starben 298 Menschen, mittlerweile sind über 600 Tote im Gazastreifen gemeldet – ca. 900 Tote, eine strunzblöde mathematische Addition, denn jedes dieser Menschenleben wurde unnötig und skrupellos beendet. Wir empören uns zu Recht, wir wollen – in der Ukraine wie im Gazastreifen –, dass das Sterben aufhören, dass Frieden einkehren, die Vernunft siegen möge.
Trotzdem noch eine aktuelle Zahl aus diesem Jahr: 1.233. Soviele Menschen starben von Januar bis Mai 2014 auf Deutschlands Straßen in Folge von Verkehrsunfällen (8,7% mehr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Daneben wurden »nur« 147.197 verletzt (13,1% mehr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Quelle: Statistisches Bundesamt.

»Moral ist das Immunsystem der Gesellschaft« – so tönte es heute Mittag aus dem Radio, als ich die Küche betrat, und so sehen es mittlerweile wohl auch manche Wissenschaftler. Betrachtet man den Panorama-Beitrag aus diesem Blickwinkel, so muss man konstatieren: Unser gesellschaftliches Immunsystem ist schwer angeschlagen – nicht nur in punkto Mobilitätsverständnis, aber nur um dieses geht es in diesem Blog. Melde-Apps und Dashcams sind möglicherweise nicht die probaten Heilmittel, ganz sicher sind sie jedoch nicht die Krankheitserreger. Beiträge wie der bei »Panorama« reden lediglich der Autobesoffenheit hierzulande das Wort: Es ist halt so, dass jährlich Tausende sterben, es ist halt so, dass jährlich Hunderttausende verletzt werden. Aber viel schlimmer für die Gesellschaft als die Toten und Verletzten sind die, die gegen diesen Irrsinn das Wort führen, die ihren gefährlichen Alltag dokumentieren, die Anzeige erstatten. Sie sind es, die »Probleme größer machen, als sie sind«, sich »selbsternannt« »aufschwingen«, »gegen geltendes Recht« verstoßen, »sich aufspielen«, »das Misstrauen untereinander« stärken, das »Vertrauen in den Staat« reduzieren, diese »selbsternannten Ordnungshüter«, die »spalten« und »Unfrieden« säen, »anschwärzen«, kurz: die sind doch »für die Gesellschaft … ein echtes Problem«.

Echt jetzt? Sag mal, Gesellschaft: hast Du sie noch alle?

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4 Gedanken zu “Ursache und Wirkung (2): Zivilcourage oder Denunziantentum?

  1. Ich teile weitestgehend Deine Analyse. Besonders aber gefällt mir dies: „Aber auch Radfahrer – und Fußgänger – brillieren nicht mit regelkonformem Verhalten. Nur ist das eben deutlich weniger gefährlich, als wenn ein Vollpfosten 2 Tonnen beschleunigtes Material als Beitrag in den täglichen Diskurs über Verkehrsregeln einbringt.“
    Unfallfreie Fahrt weiterhin!

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  2. autowahnsinn schreibt:

    Ja, ich habe den Panorma-Beitrag auch gesehen und die völlig einseitige, überzogene und den geradezu untertänig-staatshörigen Ton in der Moderation bemerkt.
    Den Vogel abgeschossen haben die Panorama-Leute mit den Bemerkungen, Dashcam-Benutzer, seien „Denunzianten“, „Spaltpilze“, „Möchtegern-Polizisten“ etc etc

    „Shoot the messenger“ nennt man diese Taktik in den Staaten – nicht der Mißstand selbst wird kritisiert, sondern der Überbringer der Nachricht.

    Mehr noch:
    Ich filme selbst seit einigen Jahren, veröffentliche alle paar Monate mal wieder highlight-verdächtige Clips auf youtube.
    Warum ? Aus persönlichen Gründen und weil ich wahrnehme, daß seit einigen Jahren die Verrohung und Aggression auf den Straßen immer mehr zunimmt.
    Nimmt eigentlich noch jemand wahr, wieviele Menschenleben und Familien durch Rowdytum und Gleichgültigkeit auf den Straßen zerstört werden ? Oder wer hinterher aufräumen muß ?

    Wer sich allerdings in Deutschland aufmacht, solche Mißstände anzuprangern, der wird selbst schnell ans Messer geliefert. Freie Meinungsäußerung, Demokratie, all das… Pustekuchen.
    Wenn sie dich erstmal auf dem Kieker haben, dann machen sie dich platt – auch und gerade wenn es noch so sehr wahr ist, was man aufzeigt.
    Es beginnt mit offenen Androhungen von Gewalt und geht dann immer weiter. Freunde und Helfer gibts in der Sache dann auch keine mehr.
    Streng nach dem Motto „Hoch lebe der Egoismus, hoch lebe das Faustrecht !“

    BTW: Die Panorama-Redaktion hatte mich im Feb 2014 auch angeschrieben, weil sie einen Beitrag über die Dashcams drehen wollten, und mich dazu gerne interviewt hätten.
    Habe dankend abgelehnt, weil mir klar war, daß sie die Dashcam-Benutzer rund machen wollen.

    Die Frage ist nur: Wem nützt dieser Unsinn, an dem sich die Redaktion von Panorama auch nur so gerne beteiligt ?
    Der Auto-Industrie ? All den weiteren Industrien, die an Unfällen verdienen (Bergung, Transport, Reha, Baufirmen, Gutachter, Anwälte, Gerichte, Werkstätten, Schildermaler etc etc) ? Wem nützt es, daß sich täglich hunderte Menschen zum Krüppel fahren (sich und andere)?

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    • Wäre es nicht beruhigend, hinter all der Auto-Fixiertheit irgendeine Art von »Verschwörung«, ein System auszumachen? Getragen wird der Schmarrn aber von der (fast) ganzen Bevölkerung, (fast) weltweit. Aus Bequemlichkeit, aus Statusdenken, aus Soziophobie. DAS finde ich viel beunruhigender … und Egoismus und Faustrecht gelten, wenn auch noch nicht in vergleichbarem Maße, genauso unter Radfahrern und Fußgängern. Leider.

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