Wie ich hier schon berichtet habe, gilt in Würzburg auf der Ludwigsbrücke (Volksmund: »Löwenbrücke«) seit einem tragischen Unfall Tempo 30. Inzwischen konnte ich einen Blick in das Protokoll der entsprechenden Stadtratssitzung werfen (online hier als PDF einsehbar) und mir einen Überblick über die Argumente der Befürworter und Gegner von »Tempo 30 auf der Löwenbrücke« verschaffen. Ich muss sagen: Das eine oder andere scheint mir wirklich bemerkenswert …
Unter »TOP 23« findet sich der »Dringlichkeitsantrag Nr. 59/2014 der Stadtratsmitglieder Kolbow, Loew und Mansury – auch namens der SPD-Stadtratsfraktion – vom 24.09.2014: Einführung von Tempo 30 auf der Löwenbrücke«. Bei 52 Seiten und 26 TOPs verdeutlichen die 6 Seiten, die alleine dieser Punkt mit den vorgebrachten Argumenten füllt, wie umfangreich sich der Stadtrat mit dem Thema beschäftigt. Und es ist interessant, die Argumente zu lesen pro und contra der – mittlerweile ja umgesetzten – sofortigen Einführung von Tempo 30, ungeachtet künftiger (dringend notwendiger) Umbau- und Umwidmungsmaßnahmen zur Entschärfung der verschiedenen Gefahrensituationen auf der Löwenbrücke. Neben vielen guten Argumenten – nun kann ich auch ansatzweise nachvollziehen (aber nicht verstehen), warum z. B. OB Christian Schuchardt, selbst Radfahrer, gegen die Sofortmaßnahme gestimmt hat – fallen aber auch wieder einige Textpassagen auf, deren Lektüre erheiternd (Weber) bis gruselig ist – wie etwa die zitierte Schlussfolgerung der Polizei im Eingangsvortrag von Stadtbaurat Prof. Christian Baumgart (S.43, erster Absatz):
»In der Zeit vom 1. Januar 2010 bis 22. September 2014 habe es auf der Löwenbrücke 14 Verkehrsunfälle mit 14 verletzten Personen gegeben … Hieraus ziehe die Polizei eindeutig den Schluss, dass sie eine umgehende Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h für nicht notwendig erachte.«
Das ist die höhere Mathematik: 14 Unfälle in fast 5 Jahren geteilt durch 14 Verletzte ohne Tote = kein akuter Handlungsbedarf.
Dass es auf der Würzburger Löwenbrücke um das Sicherheitsbedürfnis aller und nicht nur das Geschwindigkeitsbedürfnis der Autofahrer gehen könnte, spielt in solchen zahlengestützten Rechnungen keine Rolle. Stattdessen wird einmal mehr die Vermutung bestärkt, dass Verletzte (und leider auch Verkehrstote) als eine Art unvermeidbares Grundrauschen zum Verkehr dazugehören, erst ab einer gewissen Anzahl sehen die zuständigen Stellen Handlungsbedarf und werden aktiv …

Die Löwenbrücke, knapp 400 m Straße (blau, mit Auffahrt): Stadteinwärts (v.l.n.r.) einspurig (Auffahrt von der Kreuzung Leistenstraße an markiert), ab der 90°-Kurve mit Straßbahnschienen in der Fahrbahnmitte über die Brücke; stadtauswärts (v.r.n.l.) zweispurig, in der Mitte der linken Spur Straßenbahnschiene bis zur 90°-Kurve.
Da nur die linke Spur stadtauswärts führt, wird die rechte, nördliche Spur »auch in den Spitzenzeiten kaum benutzt« (Stadtbaurat Prof. Christian Baumgart).
Aber genug gegruselt – die Wortmeldung von Alt-OB Jürgen Weber, zitiert nach dem Protokoll:
»Stadtratsmitglied Weber ist generell nicht gegen Tempo 30 auf der Löwenbrücke, jedoch sei diese Regelung auch an anderen Straßen in Würzburg erforderlich.«
Ja, genau: Idealerweise der komplette Innenstadtbereich (sog. »Bischofshut«). »First we take Manhattan, …«
»Eine solche Tempobeschränkung führe – werde diese eingehalten – oftmals zu Behinderungen für andere Autofahrer, die diese nicht einhielten.«
So ist das nun einmal: die Autofahrer, die sich an das Tempolimit halten, behindern die Autofahrer, die sich nicht an das Tempolimit halten.
»Die im Bereich der Universität Würzburg in der Zeppelinstraße eingeführte Tempo-30-Regelung sei zum Schutz der Studenten eingeführt worden.«
Und zum Schutz vor wem oder was, bitte? Autofahrer oder Autos eben.
»Dass diese auf dieser vierspurigen Straße auch außerhalb der Vorlesungszeiten eingehalten werden müsse, sei für Autofahrer schwer verständlich.«
Woher wissen die Vorbeifahrenden denn, wann welche Studenten was auf dem Uni-Campus samt den Wohnheimen zu tun haben? Und wann wer Vorlesung hat? Von den rund 33.000 Studierenden (WS 2013/14) entfielen fast 27.000 auf die Universität, deren größter Standort von besagter Temporegelung betroffen ist:

Campus der Universität am Hubland: eine der zentralen Würzburger Verkehrsadern ca. 800 m einer völlig überdimensionierten vierspurigen Straße (ohne entsprechende Anschlüsse, blau) führen durch ein Areal, auf dem sich neben dem Campus (75% der Fläche, das Bild ist etwas veraltet: da stehen mittlerweile mehr Gebäude, und das ehemalige Kasernenareal im Bild oben rechts ist inzwischen mit einer Fußgängerbrücke verbunden und ebenfalls Teil des Campus) ein Supermarkt, eine Seniorenwohnanlage und eine ausgedehnte Kleingartenanlage befinden. Stadträtin Miethaner-Vendt (Protokoll): »Ihres Erachtens sei eine vierspurige Straße im Bereich der Universität Würzburg von der Zeppelinstraße bis zum Sanderheinrichsleitenweg [= unteres Drittel der Straße] nicht notwendig, zumal auf einer Fahrspur fast ausschließlich Campingfahrzeuge geparkt seien.« (S. 46 Mitte).
Soviel zur Bedeutung dieser vierspurigen Straße …
»Diese Straße sei inzwischen gut ausgebaut, jedoch gelte die Tempo-30-Regelung noch immer.«
Umgekehrt: Weil die Straße zu gut ausgebaut ist, wurde die Tempo-30-Regelung eingeführt. Wegen Unfällen. Um die Menschen, die viele Jahre auf diesem Gelände leben und arbeiten, täglich vor den Menschen zu schützen, die hin und wieder auf der Vierspurigen unterwegs sind und auf Tempo 50 bestehen – wozu auch immer.
»Eine solche Tempo-30-Regelung sei z. B. in Kurvenbereichen oder anderen Gefahrenstellen für Autofahrer verständlich, jedoch nicht bei einer vierspurigen Straße.«
Für Außenstehende unverständlich ist, welchen Zweck eine vierspurige Straße in diesem Areal überhaupt erfüllen soll. Aber die »Tempo-30-Regelung sei z. B. in Kurvenbereichen oder anderen Gefahrenstellen für Autofahrer verständlich« – prima, dann ist die Löwenbrücke ja in trockenen Tüchern, oder?
»Er spreche sich für eine sachgerechte Entscheidung für die Löwenbrücke aus, was im Hinblick auf den gesamten Verkehrsfluss wichtig sei.«
Ja! Ja!! Ja!!! Der gesamte Verkehrsfluss des gesamten Verkehrs, nicht nur der Autos …
»Er macht nochmals deutlich, dass oftmals die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 30 km/h schwer eingehalten werden könne.«
Das stimmt: Auch ich tue mir oft schwer, auf dem Rad die 30 km/h einzuhalten, wegen der inkonsistenten, wenig durchdachten Radverkehrsführung in Würzburg. Während die Autos neben mir permanent auf der Vorfahrtstraße fahren, muss ich öfters bremsen und sogar halten, obwohl ich der gleichen Route folge. Ist das also gleich das Pamphlet für ein radikales Umdenken, was den Würzburger Straßenverkehr angeht? Entschleunigt, umstrukturiert und attraktiv für alle, die nicht mit dem Auto unterwegs sind. Also beispielsweise für mehr als die Hälfte derjenigen, die hier wohnen (und auch hier einkaufen, liebe »Wir-brauchen-mehr-Parkplätze-direkt-vor-der-Ladentür«-Jammerer vom sog. »Einzelhandel« – seltsam: auch die Einzelhändler, bei denen ich einkaufe, können diese ewig gleiche Leier nicht mehr hören)? Leider spricht er nicht für alle, sondern nur für die, die »die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 30 km/h schwer« einhalten können – die Armen, die.
(Danke an Thorsten für den Hinweis)