Alltag, Lektüre, Mensch-Maschine, Würzburg

Kritische Masse, kritisch betrachtet …

»Critical Mass« – das klingt für diejenigen, die den Begriff kennen und einordnen können, manchmal fast schon mystisch, und es kann durchaus auch ein prägendes, inspirierendes Erlebnis sein, an einer personell gut bestückten Critical Mass teilzunehmen. Ich selbst habe in Würzburg auch schon mehrfach an der lokalen Critical Mass teilgenommen – aber was seinerzeit vor allem kritisch war: Bekommen wir überhaupt die 16 TeilnehmerInnen zusammen, um als Verband fahren zu können?

In Würzburg findet mittlerweile auch wieder regelmäßig eine Critical Mass statt, immer am 2. Freitag im Monat um 18 Uhr am Talaveraschlösschen. Im Januar konnte ich es terminlich nicht einrichten, am 13. Februar war ich dann auch dabei – und war schwer beeindruckt: Über 20 TeilnehmerInnen, während der Fahrt zählte ich 28. Wir fuhren am Talaveraschlösschen kurz nach 18 Uhr los und nahmen zuerst die obligatorische Route des Berufshauptverkehrs, also Friedensbrücke, Röntgenring, Haugerring, Berliner Ring, Ludwigstraße – dann weiter über Theaterstraße, Balthasar-Neumann-Promenade und Sanderring, über Sanderglacisstraße und Mainkai durch die Karmelitenstraße, den Röntgenring gekreuzt und via Veitshöchheimer Straße und Brücke der deutschen Einheit wieder zur Talavera. Das alles im gemütlichen Tempo, zu zweien oder auch dreien nebeneinander …

Neben dem guten Gefühl, für die richtige Sache zu radeln, machte sich bei mir aber doch auch eine eher kritische bis stellenweise ablehnende Haltung breit:

  • Radfahren in der Gruppe, wenn nicht »sportlich« geradelt wird, kann extrem nervtötend sein. Die Geschwindigkeit muss sich an den langsamsten Fahrerinnen und Fahrern orientieren, damit der Verband nicht auseinander fällt – lieber noch einen Gang langsamer. Das ist ok, wenn Kinder mitfahren, die habe ich aber diesmal (noch) nicht wahrgenommen. Um das Fahrrad anderen Verkehrsteilnehmern als schnelles, flexibles Fahrzeug schmackhaft zu machen, taugt Critical Mass überhaupt nicht – eher wird die Einschätzung zementiert, dass das Fahrrad gut fürs Bummeln ist, aber nicht eine ernstzunehmende Alternative zum Auto darstellt.
  • Niemand kennt die Regelung, dass Radfahrer ab einer gewissen Anzahl einen Verband darstellen (§27 StVO) – kaum ein Autofahrer (da gab es tatsächlich Idioten, die sich auch noch mit dem Auto in den Verband gedrängelt haben), und Fußgänger sowieso nicht. Damit wird, trotz StVO-konformem Verhalten der Critical Mass-Teilnehmer, in der Aussenwahrnehmung der Eindruck gestützt, dass Radfahrer sowieso fahren, wie sie wollen, und sich nicht an Regeln halten.
  • Freudig kommentierte ein Teilnehmer, dass wir als Verband die Straßenbahn an der Juliuspromenade ausbremsten – da dachte ich schon, dass ich im falschen Film bin: Es geht nicht darum, den (eh bescheidenen) ÖPNV lahmzulegen, es geht – wenn man es gaaaanz einfach gestrickt haben will: gegen den MIV und für das Fahrrad, aber sicher nicht gegen den ÖPNV. Ich fand das Gejohle beim Ausbremsen der Straßenbahn völlig daneben, sorry.
  • Wenn es darum geht, »den Radverkehr sichtbar zu machen«, dann ist die Dunkelheit, die derzeit um 18 Uhr noch vorherrscht, sicher nicht die ideale Zeit. Vor allem aber: Fahren ohne Licht (auch einige Teilnehmer fuhren ohne Beleuchtung) geht gar nicht in der Dunkelheit. Warum? Weil das Licht für mich vor allem den Zweck erfüllt, von anderen gesehen zu werden – ich selbst sehe gut genug. Wer sich für andere schwer erkennbar macht oder sich eben nicht gut erkennbar macht, ist ein asozialer, egoistischer Solipsist – und passt eher hinter das Lenkrad eines KFZ als auf den Sattel eines Fahrrads. Aber das ist eh ein Problem des Radverkehrs: zu viele verwechseln die Leichtigkeit und Unkompliziertheit des Radfahrens mit einem Freischein für Wurstigkeit und schlechte Manieren.

Mit Thorsten hatte ich mich schon während der Fahrt unterhalten, und auch danach bei einem Tässchen Tee noch ein paar Gedanken zur Critical Mass ausgetauscht – und schon da angekündigt, dass ich mich auf jeden Fall kritisch dazu äußern würde (was hiermit geschehen ist). Mir fiel nicht mehr ein, in welchem Buch ich kritische Töne zur Critical Mass allgemein gelesen hatte – ich dachte erst beim Bike-Snob, aber es war dann doch bei Grant Petersen:

»Critical Mass« is a monthly ride on an impromptu course that takes place in several hundred cities around the world. It started in 1992 in San Francisco, with the original name of »Commute Clot«. Its purpose, a fantastic one, was to call attention to the rights of bike riders in cities and to make San Francisco more bike friendly. It has probably done some good along the way, but it is still a commute clot, and that makes people mad. In that clot are people who can’t get to the airport or hospital, or home or to a ball game on time.
The topic of Commute Clot is a divisive one in the bike community. Pro-Clotters assume that anybody who rides a bike should be pro-Clot, and see themselves as activists for the good of all bike riders, but that often isn’t the case.
Con-Clotters don’t want the pro-Clotters representing them. They think pro-Clotters make neutral drivers dislike bike riders and make drivers who already don’t like bike riders hate them. (aus Grant Petersen: »Just Ride«, Seite 188)

Petersens Kritik an Critical Mass deckt sich weitgehend mit meiner: Um eine positive Veränderung zu bewirken, müsste die Aktion auch durchweg positiv wahrgenommen werden – das trifft auf Critical Mass aber nur bedingt zu, auch auf die Würzburger Critical Mass vom 13. Februar. Außer den knapp 30 TeilnehmerInnen dürfte wohl kaum jemand besonders positiv angetan gewesen sein – Feindseligkeiten dagegen sogar von einem Radfahrer (Ampel bei Joey’s), der ebenfalls die Verbandsregelung nicht kannte. Ich persönlich jedenfalls versuche seit geraumer Zeit, die permanenten Belästigungen und Behinderungen durch Autodeppen eben nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen, sondern – wo immer möglich – durch meinen Fahrstil zu beweisen, dass es auf dem Fahrrad schneller, flexibler, aber auch freundlicher und umsichtiger gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern geht (gut, Autofahrer bekommen derzeit von meiner Freundlichkeit tatsächlich noch recht wenig ab …).

Andererseits hat Thorsten mich gleich genötigt, durch eine kleine Mail, in der »Philosophie des Radfahrens« nochmal in das Critical Mass-Kapitel von Zack Furness reinzulesen (schön, wenn alle die selben Bücher haben, gelle?), und ich bringe der Einfachheit halber das Zitat, das er ausgesucht hat:

Denn letztendlich liegt der Wert von Critical Mass nicht darin, was der Öffentlichkeit dadurch vermittelt wird, sondern darin, was die Aktionen mit denen machen, die jeden Monat daran teilnehmen. (Zack Furness: »Critical Mass gegen die Automobilkultur«, in »Die Philosophie des Radfahrens«, S. 100)

Und wie nun weiter? Ich weiss es, ehrlich gesagt, selbst nicht so genau – und werde vermutlich genau deshalb auch bei der nächsten Critical Mass (13.3.) wieder mitfahren. Aber ich freue mich vor allem auf die Abende, an denen es wieder länger hell und wärmer ist: Dann könnte sich nach einer Critical Mass ja womöglich noch eine nette Gesprächsrunde in einem der zahlreichen Biergärten zusammenfinden, um zu klären, was die Würzburger Critical Mass eigentlich will – und ob man diese Ziele erreicht, indem man anderen Verkehrsteilnehmern immer weiter Argumente für die Ablehnung des Radverkehrs liefert, anstatt etwa den Autoverkehr als das bloßzustellen, was er (in den meisten Fällen) ist: eine lächerliche Veranstaltung fauler Rüpel, umständlich, verschwenderisch, längst angezählt und ohne echte Perspektive.

Grant Petersen: »Just Ride. A Radically Practical Guide to Riding Your Bike«
Workman Publishing Company 2012; ISBN: 978-0761155584

Jesús Ilundáin-Agurruza, Michael W. Austin, Peter Reichenbach (Hg.): »Die Philosophie des Radfahrens«
mairisch Verlag 2013; ISBN: 978-3938539262

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Ein Gedanke zu “Kritische Masse, kritisch betrachtet …

  1. Holger schreibt:

    Hallo Jochen,
    nachdem Du mir gestern von diesem Post erzählt hast… Ich kann die Gedanken nachvollziehen und wie wir gestern schon festgestellt haben, ist, denke ich, ein Hauptproblem bei dieser Veranstaltung, dass Außenstehende (Fußgänger, Autofahrer, andere Radler) gar nicht wissen, was diese Meute von „Radl-Rowdies“ eigentlich will. Insofern wäre es schon wünschenswert, wenn die lokale Presse darüber berichtet und dass das Ganze so wirklich zu einer lokalen Bewegung wird. Hauptanliegen sollte ja schon sein, dass man von außen mal sieht, wieviele Radfahrer es eigentlich gibt, da der einzelne Radler den anderen Verkehrsteilnehmern in der Blechlawine nur als Hindernis gilt, was möglichst schnell überholt werden muss, damit man nicht 30 Sekunden später als geplant zum Abendbrot zu Hause ist.

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