Alle Jahre wieder findet in vielen deutschen Städten und Kommunen das Stadtradeln statt. Natürlich ist es vor allem eine Alibi-Veranstaltung, bei der sich die Kommunen betont fahrradfreundlich geben und die Bürgerinnen und Bürger in einem überschaubaren Zeitraum (3 Wochen) Kilometer auf dem Fahrrad sammeln, um nachher die eingesparten CO2-Mengen mit einer einzigen sinnlosen Flugreise ad absurdum zu führen …
… aber dennoch fahre ich auch diesmal wieder mit (heuer nicht im eigenen Team, sondern hier). So wie ich ja auch alle 4 oder 5 Jahre weiterhin wählen gehe, obwohl auch das nur eine Alibi-Veranstaltung ist … und nein, ich bin kein Pessimist: Wir sind nur längst am zivilisatorischen Tiefpunkt angelangt – der höchste technische Entwicklungsstand ever, gepaart mit Habgier, Misstrauen, Angst und Dummheit, während fleissig gesellschaftliche Systeme (Gesundheit, Bildung, Arbeit, Kultur, Umwelt …) geschliffen werden, als gäbe es kein morgen (bzw. keine Nachkommen) mehr.
Es kann also nur besser werden. Bestimmt. Da bin ich optimistisch. Besonders, wenn ich meine Familie radeln sehe (Emil vorne mit seinem Faggin, meine Frau Margit dahinter mit ihrem Rocky Mountain – beide ohne Helm, und beide vergnügt).
Wie wahr…
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Alibi ist wohl genau das richtige Wort. Ich habe dieses Jahr erstmals teilgenommen, weil ich gefragt worden bin. Die Idee ist grundsätzlich nicht schlecht, klar, geht ja ums Radfahren 🙂 Aber 3 Wochen ist doch ein bisschen mau, vor allen Dingen wenn man sich die recht umfangreiche Website anschaut. Dicke kommunikative Welle, aber ohne richtigen Pep dahinter. So ein richtig gutes Gefühl hab ich dabei nicht. Interessant wäre übrigens noch zu wissen, wie oft man denn das Auto in dieser Zeit bewegt hat …
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»So ein richtig gutes Gefühl …« habe ich auch nicht, aber was kann man sonst überhaupt noch tun? Ich verweise auf Colin Crouch und sein – wie ich finde – sehr lesenswertes Buch »Postdemokratie« – ernüchternde, eigentlich deprimierende Lektüre, beschrieb er doch schon 2003 (Erstveröffentlichung in Italien) recht detailliert den heutigen Status Quo. Das Fazit des Buches mit möglichen Handlungsoptionen fällt recht mager aus, trotzdem gefällt mir dieser Absatz (»Neue Identitäten mobilisieren«, S. 148) sehr gut:
»Auch wenn die Postdemokratie weiter voranschreiten mag, muß man doch davon ausgehen, daß es neuen sozialen Identitäten nach wie vor möglich sein wird, sich zu formieren, sich ihres Außenseiterstatus im politischen System bewußt zu werden, laut und deutlich Zutritt zu den Institutionen zu verlangen und damit die Welt der konventionellen postdemokratischen Kampagnenpolitik mit all ihren Inszenierungen und schrecklichen Phrasen zu stören. Es ist noch gar nicht lange her, da lieferte uns die feministische Bewegung dafür bedeutende Beispiele, die ökologische Bewegung folgte. Daß es im Inneren des demos immer einen Bereich der Kreativität und der Irritation gibt, ist für egalitaristische Demokraten die größte Hoffnung für die Zukunft.«
Ich behaupte nicht, dass Radfahren vergleichbar wäre mit den großen emanzipatorischen Strömungen der Geschichte, die sich gegen Unterdrückung, Sklaverei, Sexismus oder Rassismus gestellt haben – aber manchmal, wenn ich so mit dem Fahrrad unterwegs bin, bekomme ich doch einen plastischen Eindruck davon, wie sich Ohnmacht anfühlen kann. Um so wichtiger ist es, diese vermeintliche Schwäche, wo immer möglich, öffentlichkeitswirksam als eigen(tlich)e Stärke zu präsentieren. Und die »Kampagnen«, so «inszeniert« sie auch sein mögen, dazu zu nutzen, auf richtige Optionen (im Denken und Handeln) zu verweisen …
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