Bigmouth strikes again… nach ein paar kleineren Ausfahrten heuer dachte ich mir letzte Woche, dass es doch an der Zeit wäre, ernsthaft ins Training einzusteigen und gleich mal wieder die Strecke Würzburg–Berlin unter die Räder zu nehmen. Ganz bescheiden und realistisch habe ich mir 3 Tage Zeit dafür eingeplant und bin am Donnerstag mit dem Zug nach Berlin, um die Strecke mal andersrum zu fahren – blöde Idee: Nach einem Freitag mit ausschließlich Gegenwind habe ich die Route auf Berlin > Erfurt verkürzt, am Samstag, nach einem weiteren Tag mit viel Luft von vorne, bin ich in Heldrungen ausgestiegen – diesmal vor allem, weil mein Antrieb am Rad fürchterlich rhythmisch geknarzt hat, trotz einer morgendlichen Nachfettung der Kette.
Der Bericht in Bildern …

Start war in Mitte am Freitag Morgen kurz nach 7.30 Uhr, allerdings gabs erstmal mit einem aus Köln angereisten Freund (»Fridays for future«-Demo war ja auch an diesem Tag) ein Treffen mit Kaffee am Hauptbahnhof. Dann weiter. Kurz nach 9.30 Uhr bin ich immer noch nicht aus Berlin raus …

… aber dann doch irgendwann an der B2 Richtung Treuenbrietzen. Gravel habe ich mir nicht bewusst eingeplant, auch den Grunewald umfuhr ich am langweiligen Avus entlang.
Aus diesem Schild werde ich mir ein T-Shirt machen: »Mein Freund, der Baum« wird drunterstehen … 😉

Trüb, kühl, Gegenwind – eigentlich hatte ich mit anderem Wetter gerechnet (ok, den Gegenwind hatte ich schon auf dem Schirm, aber nicht mehr, wie zäh dann gerade solche freien Abschnitte werden können).

Eine Stunde später, der Track hat mich von der B2 weggeführt, geht es erstmals wieder ans Eingemachte: »Die Hölle des Nordens« nenne ich auch hierzulande das grobe Pflasterzeug, das mich jedesmal komplett durchschüttelt. Fürchterlich zu fahren.

Direkt daneben – es heißt, die »protestantische Ethik« sei ein zentrales Moment des Kapitalismus. Kommt es daher, dass gerade in der Ecke um Eisleben bzw. die Lutherstädte immer so wahnsinnig viel Müll in der Gegend rumliegt? Später gehen die Sichtungen bis hin zu Matratzen und Kühlschränken, neben vermutlich nur von Einheimischen befahrenen Feldwegen … ich spare mir die Fotos, der Anblick ist traurig genug.

Gegen 15 Uhr erreiche ich Coswig und die Fähre dort. Mittlerweile bin ich fast schon ein Fan, nachdem Freund Tilman auch vor einer Woche auf einer kleinen Ausfahrt die Fähre bei Volkach eingebaut hat (die ich bisher immer konsequent umfahren habe). Charmant …

… und interessant: Diese Fähre hat keinen Motor, sondern wird ausschließlich mit der Strömung betrieben – na also, geht doch. Super Sache!

Sehr auffällig dort: Die Unmenge an Misteln in den Bäumen – Miraculix hätte seine helle Freude hier.

An der »Elbterrasse Wörlitz« beeindrucken mich die Jugendstil-Schriftzüge oben zwischen den Fenstern im ersten Stock – das sieht der Grafiker gerne, auch wenn die Zeit für diese Schriften glücklicherweise vorbei ist (was aber noch nicht alle bemerkt haben, wie man hin und wieder entsetzt feststellen muss).

Unfassbar: Den ganzen Tag trüb und kühl, aber kaum bin ich über der Elbe, macht der Himmel auf und plötzlich wird es Frühling, aber richtig!

Bin ich der einzige, dem bei solchen Pflastermustern immer ein Bildtitel von Martin Kippenberger einfällt? … 😉

… während der Atheist keine Skrupel hat, seiner Vorliebe für alte sakrale Bauten und Kunst nachzugeben. Leider ist es schon fast dunkel. Es wird Zeit, nach einer Pension Ausschau zu halten, die ich auch kurz hinter Gröbzig entdecke …

… in einem kleinen Wäldchen zwischen den Äckern. Die Maß Bier gabs in Köthen an der Tanke, der Blutwurz im Flachmann vertreibt mit seinen 50% Alkohol nicht nur die Kälte, sondern erweist sich auch als hervorragende Anzündhilfe!

Kurz nach 8 Uhr – der neue Tag fängt ja gut an: Sonne satt (nicht im Bild: der Gegenwind, der immer noch da ist).

Hier schon wieder Pause, kurz nach 9 Uhr – der Antrieb knackt mittlerweile ziemlich nervig auf unterschiedlichen Blatt-Ritzel-Kombinationen, ich öle einmal durch und nutze 3G, um ein bisschen Facebook zu machen. Inzwischen stellt sich ganz klar das Candy-Feeling ein, ich schreibe meinen Freunden »Gegend vertraut, Wege neu«. So ist es auch.

Nächster Stop in Sandersleben – ich hatte zwar das Brennerle für das Lagerfeuer abends dabei, aber weder Kocher noch Tasse oder Kaffee für morgens. Also erstmal Frühstück.

Noch eine Premiere – ein Anrufschranke. Auf dem zweiten Bild der Blick zurück: Im Haus oben war tatsächlich das Fenster offen, und auf mein »Hallo« teilte mir der Schrankenwärter mit, dass ich kurz warten müsse, bis der Zug durch sei, dann würde er mich rüberlassen.

In Oberröblingen, neben Sangerhausen, halte ich nochmal kurz an, um die Beinlinge auszuziehen – es wird warm, sehr warm, und der Gegenwind kühlt nicht, sondern bremst nur. Dabei setze ich mich wieder mal direkt an ein interessantes historisches Detail. Was machten die Flamen denn hier? …
Mit dem Biwaksack im Wald, uh, nix für mich. Obwohl – mit dem Kopfgestänge ist es ja schon fast ein Zelt. Wie waren denn die nächtlichen Temperaturen?
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Temperatur um die 3 Grad – Kälte war nur außerhalb ein Thema, Schlafsack plus Biwak waren echt angenehm temperiert mit der Tendenz eher nach »zu warm« … mich hat die Kombi diesmal voll überzeugt.
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Danke, Jochen, für ein bißchen Candy-Feeling… hatte ich beim Lesen schon bevor Du es erwähntest 🙂
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Schöne Tour Jochen. Aber Döner in Heldrungen? Dabei gibt es doch direkt am Bahnhof eine richtig gute Thüringer Bratwurst.
gruß Fabian
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Hey Fabian, ich habe dort vegetarisch gegessen, das schien mir die einzige Option dort … dann kam der Bahnhof samt 2 reizenden Damen mit Rad (+/- 70), die mir die Bratwurst ebenfalls empfohlen haben!
Aber ich bin seit ein paar Monaten fleischlos, in Würzburg sogar weitgehend vegan, das geht gut hier.
Was nichts an Deiner Mission ändert, die Starterliste wächst noch … 😉
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Note to myself: ein Strava feature, das Gegenwind in geleistete KM umrechnet. Damit hättest Du die Strecke wohl im Kasten. Ist aber egal: die Fahrt nimmt Dir keiner 🙂
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Klasse Bericht. Macht Lust aufs Radeln.
Und die Bildunterschriften gefallen mir.
Danke und LG, Björn
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Schön mal wieder von dir zu lesen, Jochen. Macht sehr viel Lust auch mal wieder was längeres zu starten.
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„Was machten die Flamen denn hier? …“ Eine berechtigte Frage! Die „Goldene Aue“, wozu auch Oberröblingen gehört, wurde im 12. Jh. durch Zisterziensermönche des Kloster Walkenried trocken gelegt. Das Mutterkloster von Walkenried war die am Niederrhein liegende Abtei Kamp. Es ist naheliegend, warum das Kloster Walkenried ausgerechnet Flamen in der „Goldenen Aue“ ansiedelte. Der Gerichtsstein der Flamen wurde 1544 aus dem südlich von Oberröblingen liegenden Ort Lorenzrieth versetzt. Lorenrieth ist heute eine Wüstung. Aber Orte wie Martinsrieth, Katharinenrieth oder Nikolausrieth zeugen noch von der flämischen Besiedlung der „Goldenen Aue“.
Hartmut aus Oberröblingen
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Interessant! Danke, Hartmut.
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