»Radfahrer halten sich eh nicht an Regeln!« Dieser Satz, der gerne immer mal wieder auftaucht in Diskussionen, ist so wahr oder falsch wie der Satz »Radfahrer halten sich an Regeln.« Es sind Sätze ohne jeden Gehalt, weil ohne jegliche Evidenz – Schlüsse, die von einer singulären Beobachtung aufs große Ganze angewendet werden. In der Summe wäre das entsprechend etwas anderes: Wenn ich permanent die immer gleiche Beobachtung mache, dann darf ich daraus Schlüsse ziehen, muss sogar, denn wenn ich zum wiederholten Male nass wurde, wenn Regen vom Himmel fällt, dann darf ich daraus folgern: »Wasser von oben = ich werde nass«. Der Begriff »Regeln« (an die sich Radfahrer nicht halten) ist allerdings so weit gefasst, dass es schlechterdings unmöglich sein dürfte, diesen Satz, oder sein Gegenteil, jemals irgendeiner sinnvollen Überprüfbarkeit zuführen zu können.
Die Regeln (um die es für Radfahrer wie für alle Verkehrsteilnehmer geht) sind in einem Regelwerk versammelt, das sich Straßenverkehrsordnung (StVO) nennt. Sekundiert wird dieses Werk von der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO). Daneben sollten noch ERA (Empfehlungen für Radverkehrsanlagen) und RASt (Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen) erwähnt werden. Aber keine Sorge: All dies muss niemand lesen, der regelkonform Radfahren will, weil es viel einfacher geht – ein kurzes Studium des §1 der StVO sowie des §2 (Abs. 4+5) und die Kenntnis der in §2 erwähnten Zeichen (Schilder) reichen dazu völlig aus (Critical-Mass-Teilnehmer zitieren gerne auch §27).
Die in §2 genannten Zeichen 237, 240 und 241 (ergänzt um Zeichen 239) regeln eindeutig, wo Radfahrer fahren müssen, weil sie die entsprechend gekennzeichneten Wege ausweisen als:
Dazu nun eine kleine Aufgabe: »Regeln Sie den Bereich einer Gehweg-Baustelle so, dass Verkehrsteilnehmer die Regelung verstehen und sich StVO-konform verhalten können.«
Hier ein Lösungsversuch aus Würzburg, der aktuell in der Seinsheimstraße, zwischen Ulrichstraße und Behrstraße, bewundert werden kann*:

… mit der üblichen Infrastruktur; von links: Fahrbahn, Radweg (nicht benutzungspflichtig!), Bäume mit Parkplätzen dazwischen und ein Gehweg rechts.

Wie verlagert man nun den Radverkehr vom nicht benutzungspflichtigen Radweg auf die Straße, um den nicht benutzungspflichtigen Radweg als Gehweg auszuweisen?

Interessanter Ansatz: Der Radverkehr wird mit einem Zeichen, das Benutzungspflicht anordnet (Zeichen 237) und einem Pfeil auf einem Schild, das wohl gerade zur Hand war und dessen nicht benötigten weiteren Symbole professionell überklebt wurden, auf die Fahrbahn geführt. Den Fußgängern wird mit dem Schild dahinter (Zeichen 239) die Benutzungspflicht des nicht benutzungspflichtigen Radwegs, der von Radfahrern, die den nicht benutzungspflichtigen Radweg ansonsten benutzen dürften (wenn sie wollten), nicht mehr benutzt werden darf, denn diese müssen (!) nun einen Radweg benutzen, der nicht vorhanden ist, da sie auf die Fahrbahn geleitet werden (auf der sie sowieso fahren dürften). Noch besser: Durch das blaue Schild wird die Fahrbahn als Radweg ausgewiesen, Autos dürften dort also, streng genommen, gar nicht mehr fahren.
Häh? …

… genau: Häh?
Diesen Radfahrer juckt das wenig, er fährt weiterhin auf dem nicht benutzungspflichtigen Radweg, der nun ein benutzungspflichtiger Gehweg ist und von Radfahrern nicht mehr benutzt werden darf. Liegt das nun daran, dass weiterhin Autos auf dem nun benutzungspflichtigen Radweg (vormals: Fahrbahn) unterwegs sind? Egal, glücklicherweise ist der Spuk ja gleich wieder vorüber, denn …

… wo versucht wird, das vorherige Kuddelmuddel wieder in geordnete Bahnen zu lenken (oder, salopp formuliert, dem bis hierher praktizierten Unfug ein Ende zu bereiten): Zeichen 240 ordnet hier einen gemeinsamen, benutzungspflichtigen Geh- und Radweg an. Aber wo? Links? Rechts? Die Wahrheit liegt, vermutlich, wie immer in der Mitte … 😉
Um sich an Regeln zu halten, müssten diese natürlich irgendwie auch kommuniziert werden – verständlich, verbindlich, nachvollziehbar. Wenn nun das übliche »Radfahrer halten sich eh nie an Regeln« wieder einmal ertönt, dann sollte man durchaus kontern, dass es, bei aller Überschaubarkeit der Regeln und Zeichen, kaum einen gibt, auch bei den ausführenden Baufirmen, kontrollierenden Behörden (Bauaufsicht der Stadt Würzburg, Verkehrsregelung, auch Polizei), der überhaupt durchblickt, wann was warum gilt bzw. wozu angeordnet werden darf oder muss. Die Verwendung der blauen Schilder hier ist, gelinde gesagt, abenteuerlich. Wie kann es sein, dass bei überschaubaren Baumaßnahmen so ein Unfug zustande kommt, dass Benutzungspflichten angeordnet werden, die nicht auf entsprechende Wege (Radweg), sondern die allgemeine Fahrbahn führen (und diese quasi umwidmen) und dass zur Aufhebung dieses Unfugs noch mehr Schabernack in Schilderform aufgestellt wird?
Hier hilft möglicherweise ein philosophischer Exkurs – in den ethnologischen Strukturalismus:
»Im übrigen hält sich bei uns eine Form der Tätigkeit […] die allgemein mit dem Ausdruck bricolage (Bastelei) bezeichnet wird. […] Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind. Die Eigenart des mythischen Denkens besteht nun aber darin, sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben […] Es erscheint somit als eine Art intellektueller Bastelei, was die Beziehungen, die man zwischen mythischem Denken und Bastelei beobachten kann, verständlich macht. […] Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müssten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d. h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, sondern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen.«
(Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. S.29/30)
Was an dieser Stelle (Seinsheimstraße) noch zum Schmunzeln anregt, nervt andernorts kolossal (man darf von Glück reden, wenn etwa die zusammenhanglose Radwegbastelei gnädig mit einem »Radweg Ende«-Schild (Zeichen 237 plus Zusatzzeichen 1012-31) beendet wird – oft genug geht es aber auch ohne). Richtig gefährlich wird es an anderen Stellen, etwa den Baustellen am Haugerring/Röntgenring: Seit Wochen (oder schon wieder Monaten?) wursteln die verantwortlichen Firmen dort vor sich hin, werden Rad- und Fußwege ganz nach Lust und Laune gesperrt oder verlagert, ohne Beachtung irgendwelcher der eingangs genannten Standards. Beschwerdemails, die es zu Hauf gab an die Adresse der zuständigen städtischen Stellen (Bauaufsicht bzw. Verkehrsüberwachung) werden nicht mehr beantwortet und haben auch keinerlei dauerhafte Auswirkung mehr auf die Zustände dort (ich hatte ja auch schon ein Beispiel aus genau dieser Baustellensituation dokumentiert). Denn: verbessert sich mal etwas, wird das bei der nächsten Verlagerung der Baustellenarbeiten gleich wieder »vergessen« und die Schilder wieder nach Belieben aufgestellt.
Um nun ganz zum Anfang zurückzukehren: Die Regeln, an die sich Radfahrer halten sollen und gegen die sie ja offensichtlich permanent verstoßen, sind inzwischen vergleichbar mit der sog. »deutschen Leitkultur« (also der Forderung, Migranten oder Flüchtlinge sollten sich an bestimmte Werte halten, geäußert i.d.R. von Leuten, denen auf Nachfrage gar keiner dieser Werte einfällt) – eine Chimäre, die gerne zitiert wird, die aber niemand wirklich kennt …
Lektüretipp: Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968, ISBN 978-3-518-27614-3
* Danke an Thorsten, der mich zuerst darauf aufmerksam gemacht hat, schon Anfang der Woche. Am Donnerstag Nachmittag kam ich dort selbst vorbei, aber die Fotos habe ich erst gestern (Samstag) gemacht. Es besteht in so einem Fall ja auch kein Grund zur Eile: Das bleibt erstmal so, und es fände sich im Zweifelsfall immer ein »Verantwortlicher«, der mit absoluter Überzeugung en détail erklären könnte, warum das so ist und nicht anders/besser gemacht werden kann …
Herrlich dokumentiert, vielen Dank dafür. Ich bin besorgt, mit welcher „Sachkenntnis“ das zuständige Ordnungsamt handelt. Hoffentlich findet das Beispiel keine Nachahmer.
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Danke für die Blumen, aber diese Art Dokumentation geht i.d.R. relativ leicht von der Hand, weil es sich um häufig wiederkehrende Standardsituationen handelt – nicht nur hier, auch andernorts. Und der fromme Wunsch am Ende Deines Kommentars bleibt vermutlich nur ein frommer Wunsch, die Realität sieht, wenn man regelmäßig Fahrradblogs aus anderen deutschen Städten liest, ja doch überall ziemlich gleich aus: Niemand macht etwas vor, niemand ahmt etwas nach – gerade beim Baustellenmanagement liegt vieles im Argen, denn hier findet i.d.R. eine Verknappung des zur Verfügung stehenden Raums für Verkehrsteilnehmer statt, und man braucht nicht dreimal zu raten, wer in solchen Situationen zuallererst bedient wird – und wer am Schluss sehen kann, wo er bleibt …
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Stehen die im letzten Bild zu sehenden Parker legal zwischen den Bäumen ?
Wenn ja, dann müssen die Benutzer des Radweges voll im Klappbereich der Türen fahren.
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2x »ja« – aber ist das ungewöhnlich? Das wird doch fast überall so gemacht … einziger Trost: für diesen Radweg wurde schon vor Jahren die Benutzungspflicht aufgehoben, er entspricht eben keinen Standards (mehr). Trotzdem wird er häufig benutzt, darf er ja auch. Aber es gibt in Würzburg auch benutzungspflichtige Radwege (Röntgenring), die genau so schmal an der Dooring-Zone entlangführen – verschärft durch ein extremes Hochbord zur linken, daneben die 2-spurige Durchgangsstraße: DAS ist dann erstmal spannend!
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Hat dies auf VeloKick rebloggt und kommentierte:
Interessantes Beispiel zum Radweg Chaos aus Würzburg, toll dokumentiert, ich reblogge den Beitrag gerne und möchte damit zum Nachdenken anregen, auch bei den Verantwortlichen der Ordnungsämter.
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